Magische Augenblicke teilen, nicht stehlen

Der Applaus gehört dem Kind

Foto: pexels.com - Fillip Romanowski

Magie beginnt dort, wo das Ego aufhört – und Raum entsteht für echte Begegnung

Ein leiser Moment inmitten des Trubels

Es ist einer dieser kleinen, stillen Augenblicke, die einem in über 2000 Kinderaufführungen immer wieder begegnen – und die einen nicht mehr loslassen.

Ein Kind kommt nach vorne auf die Bühne. Vielleicht etwas schüchtern. Vielleicht aufgeregt. Vielleicht ganz mutig – aber innerlich zitternd.
Und dann passiert oft etwas ganz Typisches:
Der Applaus beginnt automatisch. Schnell. Laut. Gewohnheitsmäßig.

Doch genau das ist der Moment, in dem ich innehalte.

Bevor das Kind die Bühne betritt, hole ich es immer selbst von seinem Platz ab.
Während wir gemeinsam nach vorne gehen, frage ich leise:
„Möchtest du einen Applaus bekommen, wenn du gleich auf der Bühne stehst?“

Die meisten Kinder sagen Ja. Manche zögern. Manche verneinen.

Und dann reagiere ich entsprechend:
Wenn ein Kind keinen Applaus möchte, unterbreche ich das Publikum freundlich, noch bevor es richtig losklatscht:
„Bitte einmal keinen Applaus – das war so gewünscht.“
Und ich gehe zur Seite. Ganz selbstverständlich. Und trotzdem ist das ein Moment voller Bedeutung.

Wenn ein Kind Applaus möchte, lasse ich das Publikum kurz innehalten. Ich führe das Kind in die Bühnenmitte, positioniere es mit einem Lächeln – und trete selbst bewusst zur Seite, an den Bühnenrand.
Dann sage ich:
„Wartet noch kurz – er oder sie will das jetzt richtig genießen.“

Und dann beginnt der Applaus. Nicht für den Trick. Nicht für mich. Sondern nur für das Kind.

Denn Applaus ist oft ein Reflex – aber hier wird er zur Geste.
Zur bewussten Entscheidung. Zum Geschenk.
Nicht, weil „man das so macht“, sondern weil ein Kind gesagt hat: „Ja, ich möchte das.“

Und dann, wenige Sekunden Stille. Das Publikum wartet.
Ein leises Lächeln. Eine gespannte Erwartung.
Und wenn dann der Applaus einsetzt – ist er echt.
Nicht bloß Lautstärke, sondern Bedeutung.

Warum ich das so mache

Es ist eine scheinbar kleine Geste – aber sie hat einen tiefen Hintergrund.

Viele denken: Kinder sind laut, wild, ungestüm.
Was oft übersehen wird: Kinder sind gleichzeitig hochsensibel.
Vor allem in Bezug auf Lärm. Ihre Gehörgänge sind kleiner, die Wahrnehmung oft ungefiltert – und ein rauschender Applaus, der für uns beflügelnd wirkt, kann für Kinder einfach nur überfordernd sein. Oder unangenehm. Oder peinlich.

Manche Kinder wollen einfach nicht im Mittelpunkt stehen.
Sie sind bescheiden. Oder unsicher. Oder haben ihre eigene Form von Stärke – eine, die nichts mit Lautstärke zu tun hat.

Und genau aus diesem Grund frage ich, ob es einen Applaus möchte. Ist die Antwort „Nein“, drehe ich mich zum Publikum und sage:

„Bitte einmal keinen Applaus für …“
(pädagogische Pause – das Publikum kichert)
Dann stelle ich das Kind genau so in die Mitte wie jedes andere, trete zur Seite – und lasse den Moment wirken.
Denn auch das ist eine Bühne. Auch das ist ein Applaus. Nur eben ein leiser.

Diese kleine Routine – ob mit Applaus oder ohne – wiederholt sich oft mehrere Male in der Show.
Und genau das ist entscheidend:
Nach dem zweiten oder dritten Kind entsteht eine natürliche Selbstverständlichkeit im Publikum.
Ein kollektives Verständnis für Respekt, Timing – und dafür, dass jeder Moment auf der Bühne anders ist.
Das stärkt nicht nur den Flow der Show – sondern schafft ein stilles, verbindendes Ritual.

Der Applausmoment gehört dem Kind – nicht mir

Dieser Moment ist nicht mein Auftritt.
Es ist der Auftritt des Kindes. Und er gehört nur ihm.

Deshalb stelle ich mich auch nicht daneben.
Denn: Wenn ich dabei stehen bleibe, ist es ein geteilter Applaus.
Wenn ich weggehe – dann bekommt das Kind ihn allein.
Und das ist ein Unterschied, den man spürt.
Nicht nur im Raum, sondern im Selbstwertgefühl des Kindes.

Was dabei oft niemand merkt:
Ich nutze diesen Moment auch für etwas ganz anderes.
Während das Publikum klatscht und alle Augen auf das Kind gerichtet sind, habe ich einen kleinen Augenblick für mich. Ich kann mich unauffällig präparieren, Tricktechnik sichern, kurz durchatmen, meinen nächsten Schritt vorbereiten.

Aber das ist nur ein Nebeneffekt.

Der eigentliche Zauber liegt darin, dass ich für das Kind Raum lasse.
Und manchmal auch: Raum schaffe.

Über diese Serie

Magie für Kinder & Familien ist eine neue Artikelreihe in der School of Modern Magic & Art.
Hier geht es nicht um Requisiten – sondern um Haltung. Um feine Momente, echtes Spiel und die besondere Kunst, mit Kindern auf der Bühne zu arbeiten.

Die Texte entstehen aus über 20 Jahren Erfahrung mit mehr als 2000 Aufführungen – und aus der tiefen Überzeugung, dass Kinderzauberei mehr verdient: mehr Ernsthaftigkeit, mehr Respekt, mehr Tiefe.

Für Künstlerinnen, Künstler, Pädagog:innen – und alle, die mit Kindern zaubern (oder es wollen).

Eine Idee: Der leise Applaus

Wenn ein Kind auf die Bühne kommt und ich frage:
„Möchtest du einen Applaus?“
…dann gibt es meist drei mögliche Antworten:

🟢 Ja, einen lauten Applaus.
🔴 Nein, bitte keinen Applaus.
🟣 Oder – ganz besonders –: Einen leisen.

Und für genau diesen Moment habe ich über die Jahre eine Form des „leisen Applauses“ eingeführt.

Ich frage dann das Publikum:
„Kennt ihr den Applaus für ganz besondere Kinder?“

Dann wackeln alle mit ihren Händen in der Luft.
Wie bei Gehörlosen. Wie in stillen Räumen.
Ein Applaus, der nicht über die Ohren geht – sondern direkt ins Herz.
Es entsteht ein wunderschönes, fast feierliches Bild.

Auch hier bleibt der Ablauf gleich:
Ich stelle das Kind in die Mitte der Bühne, trete zur Seite – wie immer.
Denn der Rahmen bleibt derselbe. Nur die Art des Ausdrucks ändert sich.
Und das Kind?
Lächelt. Spürt. Wächst.

Auch das ist Magie.
Keine Illusion. Kein Trick.
Sondern: Respekt.

Was passiert im Kind?

Ein Kind, das auf der Bühne steht, ist immer verletzlich – auch wenn es lacht. Es betritt einen fremden Raum, stellt sich einer Menge und öffnet sich dem Moment. Diese Herausforderung, der unbekannte Raum, die neugierigen Blicke – das alles kann eine ungeheure innere Spannung erzeugen, die dem Kind durchaus bewusst ist. Es ist ein mutiger Schritt, der viel von ihm verlangt.

Deshalb ist es so wichtig, diesen Moment mit Respekt, Zartheit und Bewusstsein zu begleiten. Wenn ich das nicht tue, wird aus der Magie schnell eine Machtausübung. Es ist nicht der Trick, der zählt, sondern wie wir diesen Moment miteinander teilen. Und das Gegenteil von Zauberei ist nicht einfach Entzauberung, sondern Entwürdigung – das Gefühl, nicht wirklich gesehen oder respektiert zu werden.

Für das Kind kann der Moment auf der Bühne ein unvergessliches Erlebnis sein – ein Moment der Bestätigung, des Wachstums, der Freude und des Stolzes. Es geht nicht nur darum, den Applaus zu bekommen. Es geht darum, sich in seiner eigenen Stärke zu erleben, sich von der Aufmerksamkeit getragen zu fühlen, ohne dass sie zu überwältigend wird. Und genau das ist es, was einen solchen Moment wirklich magisch macht.

Impulse für andere Künstler:innen

Wenn du mit Kindern arbeitest – egal ob als Zauberer, Clown, Schauspieler:in oder Musiker:in – dann frag dich:

  • Wann hast du zuletzt einem Kind wirklich die Bühne überlassen
  • Wie gehst du mit Kindern um, die nicht die lautesten sind?
  • Was bedeutet es für dich, präsent zu sein, ohne im Mittelpunkt zu stehen?
  • Wo ist in deiner Show Raum für echte Begegnung?
  •  

Konkrete Varianten für die Praxis

1. Der „Respektvolle Applaus“
Vor der Show etablieren: „Wer Applaus will, bekommt ihn – wer nicht, bekommt trotzdem einen Moment.“

2. „Der doppelte Applaus“
Erst laut – dann leise. Oder umgekehrt. Das Publikum erlebt Vielfalt, das Kind bekommt zwei Versionen.

3. „Der Applaus-Test“
Frage das Kind: „War das laut genug?“ – das Publikum darf nochmal klatschen. Spielerischer Zugang, große Wirkung.

4. „Die leere Bühne“
Nach dem Applaus kurz innehalten – das Kind allein in der Mitte stehen lassen (wenn es sich wohlfühlt).
Es wächst sichtbar in diesen Sekunden.

Abschließende Gedanken

Die Bühne ist kein Ort der Selbstdarstellung – sie ist ein Raum der Begegnung. Wer mit Kindern arbeitet, trägt dabei eine besondere Verantwortung: nicht nur für Unterhaltung, sondern für Würde, Sicherheit und echtes Erleben. Die scheinbar kleinen Momente – ein fragender Blick, ein zurückhaltendes Kind, ein stiller Applaus – sind oft die kostbarsten. Sie lassen uns spüren, worum es wirklich geht: nicht um perfekte Routinen oder große Effekte, sondern um aufrichtige Verbindung.

Kinder sind keine Statisten in einem fertigen Ablauf. Sie sind Persönlichkeiten, die mitspielen, mitfühlen und mitgestalten – wenn man sie lässt. Was wie eine pädagogische Kleinigkeit wirkt, ist in Wahrheit eine künstlerische Entscheidung. Eine, die Haltung zeigt. Wer als Zauberer (oder allgemein als Bühnenmensch) die Bühne mit Kindern teilt, muss bereit sein, Raum zu geben. Und manchmal auch: Zurückzutreten.

Denn genau dort – in diesem bewussten Loslassen – entsteht oft das, was wir „Magie“ nennen. Nicht im Trick selbst, sondern im Moment der Begegnung.