Daniel Kühne

Kühne's Perspektive

Dai Vernon sagte: „Lerne, ein Kunststück besser zu machen als jeder andere.“ Wie der Schüler, der ein Gedicht bis zur Perfektion übt, geht es auch beim Zaubern darum, ein einziges Kunststück zu meistern, bevor man mehr hinzufügt.

Zen und Zauberei

Dai Vernon wurde einst gefragt, wie man ein guter Zauberer wird, und er sagte: „Learn to do one thing better than anyone else.“

Eine Zen-Geschichte berichtet von einem Lehrling des Gedichtevortragens, der bei einem großen Meister in die Lehre ging. Dieser ließ ihn an jedem Tag das gleiche Gedicht üben. Das ging dann über Wochen, dann Monate und Jahre. Irgendwann hatte der Schüler die Nase voll und verließ enttäuscht seinen Meister, um über das Land zu ziehen. Zufällig kam er an einem Dorf vorbei, in dem gerade ein Gedichtrezitierwettbewerb stattfand. Also schrieb er sich ein und rezitierte das einzige Gedicht, das er kannte. Nachdem er den Wettbewerb haushoch gewann, wurde er gefragt, ob er ein unbekannter Meister sei. Daraufhin berichtete er, dass er nur ein Schüler sei, der seinem Meister fortgelaufen ist. Ihm wurde geraten, unbedingt zu seinem Meister zurückzukehren, denn dieser sei ein ausgezeichneter Meister.

Diese Geschichten kann man Zauberern erzählen, und sie nicken dann gerne verständnisvoll mit dem Kopf und sagen, dass es beim Zaubern auch so sei. Und dann ignorieren sie die Geschichte wieder komplett, denn es gibt keinen Zauberer, dessen Repertoire nur einen einzelnen Effekt umfasst. Nichtsdestotrotz bin ich zutiefst davon überzeugt, dass diese Herangehensweise die Spreu vom Weizen trennt. Als ich anfing, mich für Karten und das Zaubern zu interessieren, waren die Ressourcen beschränkt auf Bücher und VHS-Videokassetten. Ich hatte vier Bücher: nämlich die ersten zwei Bände der „Großen Karrenschule“, „New Wave Close Up“ und „Das Teufels Gebetbuch“ sowie die zwei Videos „Expert Card Magic“. Die Bücher und Videos waren meine Schätze, und ich habe sie immer und immer wieder gelesen, angeschaut und geübt. Abgesehen von der „Großen Kartenschule“ war es sicher kein Material für Anfänger, aber gerade das hat den Reiz und die Herausforderung ausgemacht.

Meines Erachtens gibt die erste Routine (oder die ersten drei) den Ton an für alle weiteren, die später dazukommen. Mehr noch: Auch der Vorführcharakter bzw. die Persona werden dadurch geprägt. Einfache Herausforderungen haben weniger Gewicht als schwierige. Man kann sie zwar einfacher bewältigen, hat dann aber auch weniger davon.

Es gibt am Spieltisch den Ausdruck „Cracking out of turn“, d.h. der gespielte Charakter (des Betrügers) muss stimmig sein und er darf sich nicht verraten durch eine Bemerkung oder eine Aktion, die nicht zu seinem gespielten Charakter passt, beispielsweise indem er Chips mit der Hand mischt oder ihnen Namen gibt, die man eigentlich nur in der Casinoindustrie verwendet (z.B. „Checks“ auf Englisch oder „Stück“ auf Deutsch).

Wenn man als Zauberer tatsächlich zauberhaft ankommen will, dann ist wahrgenommene Anstrengung tödlich, denn wenn man zaubern könnte, würde es einfach passieren.

Hier schließt sich der Kreis: Warum sollte man ein Gedicht so lange üben, wenn man es doch schon kann? Damit es nicht mehr geübt aussieht. Damit man sich selbst mit einfließen lassen kann, denn das Gedicht ist ja bereits internalisiert. Dasselbe gilt auch beim Zaubern. Es stellt sich nur noch die Frage, was das mit dem Rest des Repertoires zu tun hat. Sobald ich ein Kunststück nach höchstem Standard gelernt habe, kann ich alle weiteren nach den gleichen Kriterien beurteilen und werde erst dann zufrieden sein, wenn sie diesen auch entsprechen.

Daher noch einmal die Worte Vernons:
„Learn to do one effect better than anyone else and you’ll be a great magician.“